Trostlos heult der Wind, irrt durch die Wirrungen der Felsküste, seufzt traurig, während er durch die leeren Grotten weht. Erfahrene Seewölfe meinen, dass es nicht das Geheul des Windes sei, sondern das Stöhnen der Seele von Jäger Kralle, eines gnadenlosen Piratenkapitäns, dem unzählige Leben auf dem Gewissen lasten. Und wenn jemand die traurige Geschichte von Jäger Kralle, dem Plagegeist und Schrecken der Meere, hören möchte, kann er sich zu jedem alten Seebären dazugesellen, der in einer der vielen Hafenkneipen bei kräftigem Rum und einer rauchenden Pfeife mit allergrößter Freude vom Leben des gemeinen Piraten erzählen wird.
Als die letzte Handvoll Erde auf das Grab von Jägers Mutter geworfen wurde und die Trauernden den Friedhof verließen, sank der Junge zu Boden und brach in Tränen aus. Ein Jahr zuvor kam die Nachricht vom Tod des Vaters, der in einer Schlacht auf dem Plateau der Stille gefallen war, und kaum war der Schmerz über den Verlust verheilt, da legte sich neue Trauer über das Herz des Knaben. Und wie er da so kniete, legte sich plötzlich eine zarte Hand auf seine Schulter und ließ ihn aufzucken. Er hob die verweinten Augen und erblickte das mitfühlende und zärtliche Gesicht des Nachbarmädchens Holly. In ihrem Blick war soviel Herzenswärme und Anteilnahme zu sehen, dass der Knabe zum ersten Mal seit langem das Gefühl hatte, dass sein Schicksal jemandem etwas bedeuten könnte. Bis zum Morgengrauen saßen sie zusammen am Grab von Jägers Mutter, hielten sich an den Händen und schwiegen. Seit jenem Tag sind sie unzertrennlich gewesen.
Die Jahre gingen ins Land. Jäger wurde volljährig und musste sich Gedanken um den Kriegsdienst machen. Auch wenn die Trennung von Holly schwer wiegte, verlangte der Dienst danach, die Heimat zu verlassen. Nachdem er seine Braut zärtlich zum Abschied küsste, zog Jäger in die Welt hinaus, seine Liebe zu dem Mädchen und die Hoffnung auf baldige Rückkehr stets im Herzen tragend. Hollys Herz wiederum zerriss vor Schmerz, als sie dem hinfort gehenden jungem Mann hinterher blickte, wobei sie jedoch keine Träne verdrückte und sich vornahm, die Trennung als große Prüfung für ihre innige Liebe anzusehen. Vor dem Abschied schworen sich die Verliebten Treue und besiegelten diesen Schwur mit einem Kuss.
Bereits in den ersten Tagen seines Dienstes bewies sich Jäger als geschickter Krieger. Seine Vorgesetzten lobten ihn für seinen Mut und sein Geschick, die ihn zu einem erstklassigen Kämpfer machten, dessen Präsenz in einem Kampf eine Garantie für den Sieg gewesen ist. Als er sich der junge Mann nach einem dieser Kämpfe im Lager ausruhte, traf er auf einen Landsmann, der vor Kurzem der Einheit beigetreten ist. Die Freude über das Treffen war groß und die Kameraden verbrachten die ganze Nacht mit Erzählungen am Lagerfeuer. Jäger konnte es kaum abwarten, den Landsmann über seine angebetete Holly zu befragen. Doch kaum vernahm dieser ihren Namen, verfinsterte sich sein Gesicht, er verstummte und ließ den Blick sinken. Jäger wurde kreidebleich und machte sich auf das Schlimmste gefasst - das Schicksal meinte es wohl wieder nicht gut mit ihm. Als der Landsmann das Leid in dessen Gesicht erblickte, tröstete er den jungen Mann umgehend und teilte ihm mit, dass das Mädchen am Leben sei. Doch die darauf folgende Erzählung brachte Jäger nicht mindere Qualen bei. Er musste erfahren, dass Holly die Einsamkeit nicht lange ausgehalten und vor Kurzem geheiratet hatte. Jägers Herz zerriss in Stücke. Diese Neuigkeit schlug ein wie ein vergifteter Pfeil in seine Brust ein und ließ ihn vor Schmerz aufheulen. Die Einzige, für die es sich zu leben lohnte, die er mit seinem ganzen Sein liebte - sie hatte ihn verraten. Nachdem er die Erzählung des Landsmanns gehört und ihm Glauben geschenkt hat, verließ er das Lager. Wochenlang wanderte er in der Welt herum und suchte Schutz im Schatten der Bäume, bis er sich einer Einheit anschloß, die gen Süden zog. Das Leben hatte für Jäger seinen Sinn verloren, deshalb wollte er sich davon trennen. Wie ein verletztes Tier warf er sich mitten ins Schlachtgetümmel, schlug den Feind nieder und provozierte den Tod bis zum Äußersten, ging aber jedes Mal unbeschadet aus dem Kampf hervor. Er sprach mit niemandem ein Wort und wurde finsterer als sein eigener Schatten. In seiner Seele wuchs der Zweifel und er wurde von einer einzigen Frage geplagt. Als er von Hollys Verrat gehört hat, zweifelte er keinen Augenblick an der Erzählung seines Landsmanns. Wieso eigentlich? Wieso hat er blindlings an die Untreue seiner Liebsten geglaubt? Diese Frage ließ im keine Ruhe, doch hatte er Angst, der Wahrheit ins Auge zu blicken und kehrte niemals mehr in die Heimat zurück. Die größte Furcht hatte er davor, dem Mädchen in die Augen zu schauen und zu erkennen, dass er es war, der Holly in dem Augenblick verriet, als er an ihrer Liebe und Treue zweifelte.
Und so blieb die Teilnahme an Schlachten das Einzige, was Jäger noch Freude bereitete. Seine Kameraden hielten sich von dem grimmigen Krieger fern und waren nicht überrascht, als er die Einheit eines Tages wortlos verließ. Nachdem er in einer schäbigen Hafenkneipe auf einige abgebrühte Seebären traf, schloß er sich der Mannschaft eines Piratenschiffs an. Schon bald machte sich der ungestüme Jäger mit seiner tollkühnen, gierigen und risikoreichen Art einen Namen in Piratenkreisen und es dauerte nicht lange, da führte er eine Meuterei an und ließ sich als neuer Kapitän feiern. Die Mannschaft akzeptierte den neuen Anführer stillschweigend und brachte ihm hohen Respekt entgegen, der von tiefer Furcht untermauert war. Wegen seiner Neigung, sich etwas zu Schulden gemachte Matrosen an einem rostigen Haken an der Reling aufzuspießen, der an eine Tierkralle erinnerte, erhielt er schnell den Spitznamen Kralle. In allen Hafenkneipen und Tavernen gab es nur noch ein Thema: die Brutalität des Kapitän Kralle. Man erzählte sich, dass er ausgeraubte Schiffe auf Grund schickt und dabei die ganze Mannschaft mit riesigen Krallen ans Deck hämmert und dass der blutgierige Pirat selbst vor Frauen und Kindern keinen Halt macht. Er wurde zu einem echten Schrecken der Meere und hat sich bereits zu Lebzeiten in der unrühmlichen Liste von Feos größten Barbaren einen Platz gesichert. Der Kapitän blieb bis zu seinem Tod grimmig und wortkarg, beschwor seine Leute immer wieder, keiner Menschenseele zu glauben, weder Freunden, und umso weniger noch Frauen. Ein Alter Bootsmann, der lange Jahre mit Jäger Kralle die Weltmeere unsicher machte, sagte einst, dass der Kapitän zwar viele Schrullen hatte, eins aber nicht besaß: eine Seele. Und doch hätte der alte Seebär schwören können, dass er eines Abends durch den Spalt der Kapitänskajüte sehen konnte, wie Kralle ein Frauenporträt in der Hand hielt und unentwegt und wie in Trance einen einzigen Namen wiederholte - Holly...